Über den Schulmeister von Sadowa ist ein berühmtes Buch geschrieben worden und sein Ruhmesglanz ist heute noch nicht erblichen. Die meisten aber von denen, welche sich diesen Schulmeister aus Wahrheit und Dichtung zusammensetzten oder gar nur ein Traumbild davon sich vorstellten, haben nie einen solchen Schulmeister, wie er wirklich war, gesehen. Die folgende Lebensskizze meines ersten Lehrers, die einzig und allein auf strenge Wahrheit Anspruch macht, soll nebenbei auch dazu beitragen, die Begriffe über den Schulmeister von Sadowa zu klären.
Mein erster Lehrer gehörte nämlich sicher in diese Kategorie. Er brachte sein Leben in einer preußischen Elementarschule zu in einer Zeit, als die Zeitverhältnisse den Tag von Sadowa vorbereiteten. Sicherlich allerdings hat er kaum je daran gedacht, ein solcher Heldenerzieher zu sein. und vielleicht würde er in seiner gewohnten witzigen Weise lächelnd und schmunzelnd sich darüber lustig machen, dass diese Zeilen ihn auf jene Stufe erheben. Tatsachlich hat er aber alles Gute, was man sich von jenem Schulmeister vorstellt, an sich gehabt, und niemand hat ein Recht, ihn aus der Reihe seiner Zeitgenossen und Kollegen zu streichen, die auf diesen Titel Anspruch machen.
Übrigens gebe ich als sein dankbarer Schüler im Ernste auf diesen Titel ebenso wenig wie er selbst. Um jedoch die Aufmerksamkeit und das Interesse für einen einfachen Volksschullehrer, der seinem Stande alle Ehre gemacht hat, zu erwecken, glaubte ich, mit dieser Einleitung beginnen zu dürfen.
Josef Scharf, so hieß mein unvergesslicher erster Lehrer, war am 27. Mai 1811 in dem Dorfe Profen bei Jauer in Preußisch-Schlesien geboren. Als drittes von sieben Kindern hat er seinen Eltern vielleicht die meiste Sorge und später jedenfalls die größte Ehre gemacht. Noch in späteren Jahren sprach er gerne mit Ehrfurcht von denselben, und sein natürliches Erzählungstalent erglänzte dann in besonderer Lebhaftigkeit und wirkte durch die warme Kindesliebe erbauend.
Der Vater war wegen seiner Verständigkeit und Freundlichkeit, trotzdem er nur ein Häusler war, bei den Dorfbewohnern angesehen und beliebt. Und die Mutter zeichnete sich durch ihren Starkmut im Leiden aus. P. Martin Kochems Myrrhengarten war das beständige Lesebuch der Mutter, worin sie sich ihre Anleitung zum christlichen Tugendleben holte. Zum Sorgenkinde wurde nun der kleine Josef für sie durch die unbändige Lust an geschickten Schelmenstreichen, die ihn unter allen Schulkameraden von Anfang auszeichnete. Von seinem Schulmeister wurde er nicht selten "der ungezogenste Schmarake im Dorf" zum abschreckenden Beispiel für die übrigen Buben ausgescholten. Auf dem Strohdache des kleinen väterlichen Hauses fühlte er sich besonders heimisch und ließ sich von seinen Altersgenossen bewundern, indem er sich auf dem Dachfirst auf den Kopf stellte und ähnliche Kunstreiterübungen vornahm.
Natürlich teilte sein Vater diese Bewunderung keineswegs, war aber mit allen Strafen nicht imstande, den kleinen Burschen von seinen hochstrebenden Plänen und Taten abzubringen. Kein Zaun und kein Baum war ihm zu hoch und kein Graben zu breit. Einst hatte ihn das reife Obst in einem fremden Garten auf einen hohen Baum verlockt. Der Besitzer entdeckt den Dieb, eilt herzu und fordert ihn auf, herabzusteigen. Umsonst. Der erzürnte Mann holt nun eine lange Stange aus dem Hause und kommt, von seinem Haushunde begleitet, zum Baum zurück. Da die wiederholte Aufforderung, herunterzusteigen, fruchtlos bleibt, beginnt der Angriff mit der Stange. Der kleine Missetäter klettert aber schnell bis zur Baumkrone und bleibt so nicht bloß unerreichbar, sondern verhöhnt noch im Gefühle der Sicherheit den unten Stehenden. Von dem Bellen des zähnefletschenden Hundes begleitet, macht der letztere seinem hellen Zorn im Schimpfen Luft und beginnt schließlich dem Buben nachzuklettern. Allein in dem Tempo, wie er mühsam nach oben kriecht, steigt der Seppl nach unten und weicht dem Verfolger aus, indem er auf einen starken Ast hinauskriecht. Als nun der Mann dem Aste nahegekommen ist. springt der Kleine mit lautem Aufschrei hinunter und erschreckt den unten wartenden Hund so sehr, daß derselbe heulend mit eingezogenem Schwanze davonrennt. Nun saß der arme Mann, dessen Zorn aufs höchste gestiegen war, oben und mußte sich wieder von dem Knirps auslachen lassen. Daß unser Josef nicht zuletzt gelacht hat und die Komödie schließlich einen tragischen Ausgang für ihn genommen hat, ist selbstverständlich. Es ist also kein Angriff auf die Ehre unseres Helden, wenn er ob solcher Talente als Sorgenkind seiner Eltern bezeichnet wurde.
Indes die Schule des Lebens machte ihren Ernst geltend. Scharf wurde bald eine vaterlose Waise, und die Berufswahl stand vor der Türe. Ohne Zögern entschloss sich der Knabe, Lehrer zu werden. Durch so hohe Gedanken, wie sie mancher unserer jungen Lehrer bei der Berufswahl hat, wurde allerdings dem Kleinen die frühzeitige Liebe zum Lehrerberufe nicht eingeflößt. Den ersten Keim zu seinem Berufe hat er vielmehr, wie er selbst erzählte, beim Anblick seines Lehrers aufgenommen, als er denselben einmal gebratene Kartoffeln mit Speckgrieben essen sah. "Wenn's ein Lehrer so gut hat" sagte er zu sich selbst, "dann werde ich auch Lehrer".
Als die heimatliche Schulbildung ihr Ende erreichte, wurde der inzwischen ausgereifte Entschluß sofort ausgeführt. Scharf kam behufs Vorbereitung auf das Lehrerseminar unter die Obhut des Rektors der Pfarrschule in dem nahen Striegau. Mit diesem Wechsel der Verhältnisse war auch eine gänzliche Veränderung im Innern vorgegangen. Der ehedem so wilde Junge war ein Muster des Fleißes geworden und wußte die drückenden Tage, die er in seiner neuen Stellung vorfand, mutig zu ertragen. Brot und Butter, woraus seine Hauptmahlzeit bestand, trugen dem armen Präparanden die Schwestern samt der Wäsche Woche für Woche aus dem Vaterhause zu. Nach beendigter Vorbereitung bezog er das Lehrerseminar "auf dem Sande" in Breslau. Der Direktor Remschmidt und der berühmt gewordene Musiklehrer Schnabel fanden besonders Wohlgefallen an dem talentvollen Jüngling, dessen Bescheidenheit, Fleiß und Ordnung sich stets gleichblieb. Schnabels Schule verdankte Scharf die tüchtige musikalische Ausbildung, von der unten noch die Rede sein muß.
In den Sommerferien half der Seminarist zu Hause der verwitweten Mutter die kleine Ernte einbringen und begann schon damals nach Kräften für die jüngeren Geschwister zu sorgen, von denen er einen Bruder gleichfalls dem Lehrerfache zuführte. Anregend wirkte auf ihn von jenen Ferien an auch der Besuch des Ursulinenklosters zu Schweidnitz, worin seine Tante M. Marianne Scharf von 1831 - 1852 die Oberinnenstelle bekleidete. Mit dankbarer Verehrung sprach er stets von den guten Anregungen, welche er dieser Ordensfrau verdankte; über ihren Tod hinaus ist er auch dem Kloster ein treuer Freund geblieben; jedesmal war in spätern Jahren sein Besuch ein Fest für den ganzen Konvent.
Nachdem er in der Abgangsprüfung vom Seminar ein Zeugnis erster Klasse erhalten, wurde er als Adjutant in die kleine Kreisstadt Guhrau geschickt. (Mit Freuden erzählte er oft, daß ein altes Weiblein die erste Person war, die er in Guhrau antraf.) Hier, wo er mit 21 Jahren am 21. Mai 1832 sein Lehramt begann, ist er auch geblieben, bis ihn der Tod am 8. April 1899 zur Auswanderung nötigte.
Die Schulverhältnisse waren damals sehr einfach. Die Stadt hatte eine katholische und eine evangelische Elementarschule.
Die Konfessionalität der Schule und der Lehrer ist bis heute ein charakteristisches, gutes Merkmal der preußischen Schuleinrichtung geblieben. Dieser streng konfessionelle Charakter des "Schulmeisters von Sadowa" verdient speziell für die schwärmerischen Beförderer der interkonfessionellen Schule hervorgehoben zu werden, die in Österreich noch immer in dem kriegshistorischen "Nebel von Chlum" herumtappen. Die katholische Schule hatte nur eine Oberklasse mit einem Rektor und eine Unterklasse, die ein Konrektor versah. Scharf wurde 1833 definitiv Konrektor und blieb durch volle vierzig Jahre in dieser Stellung. Das Strebertum war demnach seine schwache Seite nicht. Bei seiner Begabung, seiner Anerkennung seitens der Vorgesetzten wäre ihm der Versuch, einen größeren Wirkungskreis zu erreichen und auszufüllen kaum mißglückt. Aber er blieb, ohne jemals den Eifer für die eigene Fortbildung zu verlieren. Der Grund hievon war die große Freude am Lehrberufe und die herzliche Liebe zu den Kindern. Auf Tüchtigkeit in seinem Amte war sein Streben unermüdlich gerichtet. Seiner Gewohnheit, frühzeitig sein Tagewerk zu beginnen. blieb er deshalb stets treu. Auch im Winter war er um 5 Uhr morgens bereits bei seinem Schreibtische (abends meistens bis 11, 12 Uhr).
Die Erholung hat er am liebsten in seinem Garten gesucht, der bald durch die seltsamen Erzeugnisse eine lokale Berühmtheit wurde. Kerngesund an Leib und Seele, blieb Scharf so bis ins hohe Alter eine lebensfrohe, gewinnende Persönlichkeit, die den Kindern ebenso große Liebe wie Respekt einflößte. Sein Humor war gänzlich unabhängig von der Güte des Tabaks, dem Geschmack des Bieres oder Weines oder dem Glücke beim Spiele, weil er dergleichen Bedürfnisse nicht kannte.
Das Resultat dieser unausgesetzten, frohen Arbeit war eine seltene Fähigkeit, in allen Unterrichtsgegenständen mit überraschender Anschaulichkeit und seltenem Erfolge zu lehren. Zunächst verstand er es, eine musterhafte Disziplin in seiner Klasse zu erhalten. Tief in meinem Gedächtnisse ist die würdevolle Ruhe und Freundlichkeit eingeprägt, die das Gesicht und die ganze Haltung stets offenbarte. Jedes Kind, das sich eines christlichen, pflichteifrigen Vaters erfreute, fand in Scharf dessen würdigen Vertreter. Ohne Strafen ging es hierbei freilich nicht ab. Der "Schulmeister von Sadowa" muß mit dem spanischen Rohr als Zepter in der Hand dargestellt werden. Auch Scharf handhabte dieses Zepter. Dasselbe wurde sogar Veranlassung für ein besonderes Lob, das ihm nach einer Revision durch den königlichen Schulrat Barthel, zuteil wurde. Demselben war nämlich aufgefallen, daß Scharf gewohnheitsmäßig den Stock vor dem Gesichte des aufgerufenen Kindes hin- und herbewegte, ohne dasselbe im geringsten einzuschüchtern oder auch nur mit den Augen blinzeln zu machen. Nie erinnere ich mich, daß Scharf jemals zornig dreingeschlagen hätte. Die Weckung des Ehrgefühls lag ihm vor allem am Herzen und hier setzte er gewöhnlich strafend ein. Unvergeßlich tief hat er mich einmal getroffen, als er mich vor den Mitschülern mit den Worten beschämte: "Jetzt hast du von allen den schönsten Federhalter und schreibst am schlechtesten".
War es notwendig, so blieb es freilich nicht bei den Worten. Ehe das Rohrstaberl aber in Anwendung kam, ging jedesmal eine ruhige Erklärung an den armen Sünder voran. Einmal wurden alle Knaben des ersten Tisches, etwa zwölf an der Zahl, der Reihe nach über die Bank gelegt. Als ich später in Weiß' Weltgeschichte die Guillotinierung der Girondisten las, stellte ich mir lebhaft das grauenhafte Warten derselben vor, bis die Reihe an jeden von ihnen kam. So ungefähr war uns damals beim Warten auf unsere Hiebe zumute gewesen, denn unser Schulmeister blieb bei seiner eisernen Ruhe vom ersten bis zum letzten. Selbstverständlich ist mir erst in späteren Jahren klar geworden, mit wieviel pädagogischem Takte Scharf gerade im Strafen vorgegangen ist. Einmal brachte er eine Birkenrute mit und erklärte, daß er von nun an nicht mehr das Staberl, sondern die Rute brauchen werde, weil in der Heiligen Schrift geschrieben stehe: "Wer die Rute spart, haßt seinen Sohn". Das Wort machte sichtlichen Eindruck auf uns, wenn auch einige boshafte Kritiker auf den Gedanken kamen, der eigentliche Grund des Wechsels liege darin, daß die Ruten billiger zu beschaffen seien.
Die Liebe, welche trotz der strengen Disziplin das Zepter führte oder besser der eigentliche Grund der musterhaften Disziplin war, schöpfte Scharf aus seiner tiefen Religiosität. Das angeführte Bibelwort war in seinem Munde nicht eine bloße Redensart. Die Ehrfurcht und Überzeugung, womit er dasselbe aussprach, tat auch bei uns unverständigen Kindern seine wohltätige Wirkung. Im Anschluß an diese Erinnerung aus der Heiligen Schrift kommt am passendsten der Glanzpunkt des Scharfschen Schulunterrichtes zur Sprache.
Bekanntlich helfen in Preußen die Schullehrer. den Religionsunterricht erteilen. Auch das ist ein Merkmal des "Schulmeisters von Sadowa". Scharf nun gab regelmäßig den Unterricht in der biblischen Geschichte, und hier war es, wo er vollendete Meisterschaft zeigte. Je mehr mich das Studium und die Praxis mit der Pädagogik und Didaktik in Berührung brachte, desto heiler kamen mir in unwillkürlicher Erinnerung die frohen Stunden bei Scharfs Behandlung der biblischen Geschichte zum Bewußtsein; mehr und mehr empfand ich es als ein Glück, ein solches Ideal von Lehrtüchtigkeit als ersten Lehrer gehabt zu haben. Diese ganz selbständig gebildete Überzeugung ist keine Sonderbarkeit. Als ich zum Zweck dieses Lebensbildes bei Scharfs Bekannten Umfrage hielt, kam mir von angesehener Seite auch die Mitteilung zu: "Eine biblische Geschichte von Scharf behandeln zu hören, war für den Pädagogen wie für den gläubigen Christen ein Hochgenuß". Das ist das richtige Wort für die Freude, die wir Kinder empfanden, wenn wir mäuschenstill, mit offenem Munde und unverwandtem Blicke ihm zuhörten. In dieser Weise verstand er nämlich Kinder von sieben bis zehn Jahren zu fesseln. So lebhaft wie nur möglich erinnere ich mich daran, wie er uns z. B. den Besuch der drei Engel bei Abraham erzählte. Die guten Kuchen, die Sarah zur Bewirtung der unerwarteten Gäste bereitete, schmeckten wir fast, und den dichten Schweiß, der auf dem Gesichte der Wanderer perlte, sahen wir fast ebenso wie den dicken Staub auf ihren Kleidern.
Selbstverständlich fehlte die moralische Nutzanwendung nicht. Das war nun aber kein langweiliges Moralisieren, das, kaum gehört, wieder vergessen war. Auf dem Heimwege schauten wir Kinder vielmehr herum, ob wir nicht auch einen Gast sahen, den wir zur Bewirtung mit nach Hause nehmen konnten, und zu Hause mußten natürlich die Eltern und Geschwister genau alles erfahren, wie freundlich der Abraham gewesen sei usw. Als er die Heimkehr der verwitweten Noemi aus Moab erzählte, wußte er uns mit Begeisterung für die gute Schwiegertochter Ruth zu erfüllen, wahrend keins von uns der Orpha hätte gleichen wollen. Die Achtung und Verehrung der Eltern und überhaupt älterer Personen sowie das Mitleid mit Betrübten und Armen, das er bei jeder Gelegenheit den Kindern ans Herz legte, wußte er besonders bei dieser Geschichte einzuprägen. Im erhöhten Maße drangen seine Erzählungen in die Kinderherzen ein, wenn er vom göttlichen Heilande und der Mutter Gottes erzählte.
Ähnlich beredt und warm wurde er, wenn er von der Allmacht, Weisheit und Liebe des Schöpfers in der Natur den Kindern zu erzählen hatte. Die Sonne, den Regen, die Blumen, die Bäume, die Tiere usw. benützte er geschickt zur Weckung der Religion in den Kinderherzen. Seine eigenen Kinder erzählen dankbar, wie er auf Spaziergängen das Leben in der Natur zu beachten und betrachten lehrte.
War dieses große Geschick eine Frucht seiner eifrigen Vorbereitung und seiner natürlichen Begabung, so hatte doch den Hauptanteil daran seine tief gegründete persönliche Frömmigkeit, die er als teures Erbteil aus dam Vaterhause mitgebracht, stets treu bewahrt und seinen eigenen Kindern vererbt hat. Nie durften im Kreise der Seinen die pflichtmäßigen täglichen Gebete unterlassen werden. Nicht minder durchdrang der tiefreligiöse Zug seine Beziehungen und Pflichten außerhalb der Familie. (Als ich einmal zeitiger als sonst schlafen gegangen war, wurde ich von ihm zum Beten geweckt, ich mußte aufstehen und mitbeten, M. Alicia.)
Mit den Geistlichen verkehrte er stets im besten Einverständnis. Zu den wechselnden Kaplänen trat er geradezu in ein gewisses vertrauliches Freundschaftsverhältnis. Waren dieselben auch durchwegs musterhafte Geistliche, so unterschieden sie sich doch im Temperament bedeutend von einander. Das Verhältnis unseres Lehrers zu ihnen blieb jedoch wesentlich dasgleiche; mit allen arbeitete er in sichtlicher Harmonie an der Heranbildung der Kinder. Es charakterisiert aber unseren Scharf, daß dieses innige Verhältnis seinen Höhepunkt dem Kaplane gegenüber erreichte, der mit seltenem Eifer und ungewöhnlicher Begabung am mächtigsten das katholische Bewußtsein der Gemeinde zu wecken verstand. Es war dies der Kaplan Josef Gillner, von dem die Protestanten bei seinem frühzeitigen Tode sagten, er habe den Feuerbrand in die Gemeinde geworfen. Scharf bewahrte die wohlausgearbeiteten Predigten des früh Vollendeten, die so ergreifend und zündend gewirkt hatten, als einen teuren Schatz auf. Wenn ich später in den Gymnasial- und Universitätsferien meinen ersten Lehrer besuchte, hörte ich gewöhnlich auch das Lob auf den seligen Kaplan aus seinem Munde. Der gelehrte und würdige Nachfolger Gillners, der jetzige geistliche Rat und Archivdirektor Doktor Jungnitz (Jungnitz war von 1867-1883 Kaplan in Guhrau), war nicht minder mit Scharf befreundet.
Der preußische Kulturkampf stellte natürlich auch Scharfs katholische Überzeugung auf die Probe und er bestand sie glänzend. In Politik hat Scharf nie gemacht; dazu ließ ihm sein Beruf keine Zeit, in dem er ganz aufging. Wohl aber erfüllte er treu seine staatsbürgerlichen Pflichten und trug so das Seinige zur Politik, besonders in den Tagen der kirchenpolitischen Kämpfe bei. Das Zentrum war seine Partei, und bei der Verehrung, die er für die Zentrumsabgeordneten trug, gereichte es ihm zum freudigen Stolze, daß ihm allgemein eine auffallende Ähnlichkeit mit dem großen Zentrumsführer Windthorst besonders in den Gesichtszügen zugesprochen wurde.
Bei der Generalversammlung der deutschen Katholiken zu Breslau 1886, die Windthorst mit seiner Gegenwart beglückte und zu der sich auch Rektor Scharf eingefunden hatte, kam es daher zu einer ergötzlichen Szene. Scharf wurde nämlich der kleinen Exzellenz mit der Bitte vorgestellt, sich seinen Doppelgänger anzusehen. Windthorst blickte dem Vorgestellten scharf ins Gesicht und sagte dann höchst vergnügt: "Nein, Sie sind viel schöner als ich".
Aus seiner katholischen Gesinnung machte Scharf so wenig Hehl, daß er mitten in den ärgsten Stürmen des Kulturkampfes einmal bei einem Diner, das aus einem patriotischen Anlaß gegeben wurde, sitzen geblieben sein soll, als ein Toast auf Bismarck ausgebracht wurde. Diese Entschiedenheit war indes mit jener wahrhaft christlichen Milde verbunden, die Andersdenkende und Irrende zu gewinnen oder wenigstens nicht zu verletzen, Beleidigungen aber im Andenken an den Gekreuzigten zu ertragen versteht. Daher genoß er in allen Kreisen der Bevölkerung, auch bei den Nichtkatholiken, große Achtung. Bei dem Umstande, daß die Stadt Guhrau zu zwei Drittel protestantisch ist und die bekannte Intoleranz der protestantischen Übermacht gegen die katholische Gemeinde nicht geringer ist als irgendwo in Preußen, ist dies besonders beachtenswert. Der Grund hievon liegt zunächst darin, daß männliche Entschiedenheit überall sich Achtung, sogar wider Willen erringt; sodann aber war Scharf ebenso tüchtig als Lehrer wie als Bekenner seines Glaubens (und ein äußerst gemütlicher, humorvoller Unterhalter, M. Alicia).
Seine Musikstunden, die er auf dem Klavier, als Violinist und Cellist gab, waren allgemein gesucht. Seine soliden Erfolge seines Schulunterrichtes in allen Fächern wagte niemand anzugreifen. Sein Auftreten war in allen Kreisen der Bevölkerung würdevoll, und so machte er seiner katholischen Überzeugung Ehre. Ein Beweis hierfür liegt in der Anerkennung, die ihm seitens der preußischen Regierung gerade während des Kulturkampfes zuteil wurde. Nachdem er 1873 Rektor geworden (s. die katholischen Schulleiter in Guhrau), wurde er 1875 mit dem Adler zum Hohenzollernschen Hausorden dekoriert und 1882 erhielt er aus Anlaß seines 50jährigen Amtsjubiläums den königlichen Kronenorden vierter Klasse. Eine solche Auszeichnung übertraf die Ehrung, welche gewöhnlich Lehrern bei ähnlicher Veranlassung zuteil wird. Es ehrt die preußischen Schulbehörden, daß sie den katholischen tüchtigen Lehrer zu schätzen wußten. (Als ich be! meinem Lehrexamen im Gesang Gutes leistete, sagte der Vorsitzende der Kommission: "Ja, das ist auch die Tochter des Rektor Scharf in Guhrau", M. Alicia).
Er hatte sich ja auch um das Vaterland nicht geringe Verdienste erworben. Auch das gehört nämlich zu den guten Seiten des Schulmeisters von Sadowa, daß er die Ehrfurcht vor der Obrigkeit, der weltlichen wie der geistlichen, pflegt und einen gesunden Patriotismus den Kindern einpflanzt, im Gegensatz zu den von Dittes gebildeten Lehrern in Österreich. Scharf hat hierin redlich aus Überzeugung das Seinige getan, obgleich es damals in Preußen noch nicht Sitte war, den Geist der Kinder mit Liedern zur Verherrlichung Preußens zu überfüttern. Es wurde uns Kindern aber naturgemäß und tief durch das Beispiel und das Wort unseres Lehrers eingeprägt, Gott zu geben, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist; das Verständnis für diesen Kapitalsatz kam uns freilich erst in späteren Jahren.
Nicht unerwähnt darf unter den Arbeiten, die Scharf für seine Pfarrkirche leistete, das schwierige Amt eines Rendanten der Kirchenkasse, das er 60 Jahre lang zur größten Zufriedenheit der Pfarrer versah und das ihn manchmal nötigte, sich den Schlaf zu verkürzen. (Wegen zwei bis drei Pfennigen hat er manchmal stundenlang gerechnet, M. Alicia.)
Seine Familienverhältnisse waren durch die Religion geheiligt und demgemäß wahrhaft glücklich, auch in den Stunden harter Prüfung. Das erstemal verheiratete sich Scharf mit einem angesehenen protestantischen Fräulein aus gutem Hause. Der volle Friede, der durch die Religionsverschiedenheit gefährdet war, wurde bald durch die überzeugte Rückkehr der jungen Frau zur Kirche hergestellt. In jenen Jahren, wo die Kölner Wirren kaum den Indifferentismus etwas aus seiner trägen Ruhe aufgerüttelt hatten, war ein solcher Schritt ein Ereignis in der kleinen Stadt, zumal auch der Rektor der katholischen Schule eine Mischehe eingegangen hatte, ohne seine Lebensgefährtin zur Annahme des katholischen Glaubens zu bewegen. Die glückliche Ehe Scharfs, aus der drei Kinder hervorgingen, wurde frühzeitig durch den Tod gelöst. Er sah sich genötigt zu einer zweiten Ehe, die mustergültig für die ganze Gemeinde war.
Die sehr brave Gattin überlebte ihren Mann, dem sie zehn Kinder geboren hatte (fünf starben). Die Kinder aus der ersten wie aus der zweiten Ehe, welche heranwuchsen, machten den Eltern Ehre; zwei Töchter (M. Fidelis, M. Alicia) wurden arme Schulschwestern von Unserer Lieben Frau. Bei diesen Familiensorgen und bei dem knapp bemessenen Gehalt hinterließ er dennoch seiner Witwe, die redlich seine Sorgen geteilt hatte, einen standesgemäßen Spargroschen (10.000 M).
Dieses glückliche Familienleben begünstigte die Beziehungen, in die Lehrer Scharf zu den Eltern seiner Schulkinder trat und die er sorgsam pflegte. Schule und Haus, Eltern und Lehrer waren, soweit es auf Scharf ankam, innig vereinigt. Er verständigte die Eltern, bei denen er auf Verständnis rechnen konnte, von dem Betragen und den Fortschritten ihrer Kinder durch gelegentliche Besuche und leitete so die gemeinschaftliche Erziehung ein. Umgekehrt holten sich pflichttreue Eltern gerne Rat bei dem Lehrer ihrer Kinder.
Die "Schul- und Elternzeitung" wäre so recht ein Blatt nach seinem Herzen gewesen. So wurde Scharf im besten Sinne des Wortes ein Mann des Volkes. Sein Geburtstag war auch regelmäßig ein Festtag, der die Eltern ähnlich interessierte wie die Kinder, so lange der Schulbürokratismus noch nicht jede freie Lebensäußerung in Gesetzesparagraphen einzwängte. Die Schule war ja auch in Preußen nicht von Anfang an, um August Reichenspergers Worte zu brauchen, "die große, nach einer von der Regierung vorgeschriebenen Schablone arbeitende Unterrichtsfabrik zur Uniformierung der Geister, die Dauer und im großen Ganzen genommen nur den Stoff zu Fabrikarbeitern oder Handwerkern gewöhnlichsten Schlages oder zu Soldaten mit der Aussicht auf Zivilversorgungs-Berechtigung ohne Originalität liefern." Am längsten haben sich die katholischen Schulen den charakterbildenden freiheitlichen Zug bewahrt.
Am erfreulichsten zeigte sich die allgemeine Anerkennung der Scharfschen Schulmeisterei, nachdem er 50 Jahre lang ununterbrochen sein Amt verwaltet hatte, bei dem Jubiläum im Jahre 1882. Geistliche und weltliche Behörden, Schule, Gemeinde und Amtsgenossen wetteiferten, den Jubeltag dem gefeierten Lehrer festlich zu gestalten. (Vier große Schultische waren voll von Geschenken, M. Alicia). Natürlich war die Hauptsache des Festes der feierliche Dankgottesdienst in der geschmückten Pfarrkirche; der Nachmittag vereinigte gegen 120 ausgewählte Festgäste zu einem heiteren Liebesmahle. Der Jubilar schied zwei Jahre später, am 1. Oktober 1884, aus dem Dienste, ohne das Interesse an der Schule aufzugeben. Stets hatte er sich ja fortzubilden und auf dem laufenden zu erhalten gesucht. Diese Regsamkeit und Frische des Geistes begleitete ihn auch in den wohlverdienten Ruhestand. Übrigens behielt er das Amt eines Kirchenkassen-Rendanten noch bis zum Jahre 1892.
Die Hauptsorge war indes in diesen letzten Lebensjahren seinem Seelenheile gewidmet. Mit Eifer beteiligte slch der ehrwürdige Greis an den Lehrexerzitien, welche im Franziskanerkloster auf dem Annaberge in Oberschlesien gehalten wurden und scheute die verhältnismäßig weite Reise dahin nicht. Um ein letztes Mal den Schulmeister von Sadowa zu erwähnen, so gehört dazu nämlich auch die Hochschätzung dieser geistlichen Übungen, wodurch sich die katholischen Lehrer in Preußen gern als Soldaten Jesu Christi bekennen und einüben. In Annaberg war der Zudrang zu den Lehrerexerzitien so stark, daß unser Jubilar ein Jahr lang warten mußte, ehe er darankam. Daß heute noch der Eifer der preußischen katholischen Lehrer in diesem Punkte gleich ist und vielen österreichischen Lehrern zum Vorbilde dienen kann, mag man im Redemptoristenkloster auf dem Muttergottesberge bei Grulich, wo jährlich solche Exerzitien gehalten werden, erfahren.
Mit tiefer Rührung erinnere ich mich an das letzte ungetrübte Wiedersehen, das ich mit meinem ehemaligen ersten Lehrer nach seinen Exerzitien hatte. lch fand ihn in der alten Freundlichkeit und Geistesfrische ganz von dem Vorbereitung auf die Reise in die Ewigkeit eingenommen. Er nahm sogar meinen priesterlichen Rat zu diesem Zwecke in Anspruch. Zur rechten Zeit hatte er mit peinlicher Gewissenhaftigkeit, die seine Pflichterfüllung sein Leben lang auszeichnete, alles für den großen Tag in Ordnung gebracht. (Mit 84 Jahren war er noch einmal bei mir, M. Alicia) Bald nachher begann ein jahrelanges Siechtum ihn aufzureiben. Nahezu hatte er 88 Jahre vollendet, als der Tod am 8. April 1899 seine müden Augen schloß.
Auf dem katholischen Gottesacker von Guhrau fand die sterbliche Hülle des alten Schulmeisters ihre Ruhestätte. Der einfache Grabstein verkündet den Besuchern, daß ein treues väterliches Herz, ein Christ ohne Falsch, ein Mann voll Berufsfreude und Opfermut dort am Ziele seiner irdischen Laufbahn angekommen ist. Jeder dankbare Schüler ruft an diesem teuren Grabe dem guten Lehrer ein tiefempfundenes Requiescat in pace in die Ewigkeit nach.
Nachdem ich, achtjährig, seine Schule verlassen hatte, bin ich bis zum Ende der Studien auf dem Gymnasium und der Universität vielen Lehrern begegnet, die mir gleichfalls unvergeßlich die Pflicht der Dankbarkeit ins Herz geschrieben haben. Keiner aber war imstande, im geringsten in Schatten zu stellen den teuren ersten Lehrer, dem diese Zeilen gewidmet sind. Das größte Gluck, das einem Kinde zuteil werden kann, sind wahrhaft christliche Eltern. Demnächst aber ist für ein Kind das Beste auf Erden ein solcher Lehrer, wie Josef Scharf war. Möge allen Kindern ein solches Glück beschert sein, nicht zuletzt den österreichischen!
Daß dieser Wunsch für das Vaterland der "Schul- und Elternzeitung" eine besondere Bedeutung hat, ist wohl außer Frage. Soll nämlich Osterreich nicht einen zweiten, schlimmerem Tag von Sadowa erleben, so ist es hohe Zeit, daß der herrliche Bürgermeister Dr. Lueger in der Behandlung der gewissen "Jungen" in Wien überall Nachahmer finde und daß der erlauchte Protektor des Katholischen Schulvereines sich dankbarer und tatkräftiger Anerkennung erfreue. Diese besteht aber in einer Lehrererziehung, welche Volksbildner hervorbringt, wie Josef Scharf einer war.
1 Dieser Aufsatz entstammt einem Buch Augustin Röslers, das sich früher in Familienbesitz befand und dessen Titel mir leider nicht bekannt ist. Der hier wiedergegebene Text beruht auf einem Typoskript, das mein Großvater Hubert Scharf (1897 - 1986), dessen Großvater Josef Scharf war, in den 70er Jahren erstellt hat. Die mit M. Alicia gekennzeichneten Stellen sind Kommentare von Josefs Scharfs Tochter und eher nicht dem Original zuzurechnen.